Kapitel I: Wallrafs Tod vor 200 Jahren
– der 18. März 1824

Sebastian Schlinkheider

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  • Kurznachruf auf Ferdinand Franz Wallraf,
    Kölnische Zeitung Nr. 46 vom 20. März 1824, Bildnachweis: gemeinfrei, Digitalisat: Zeitungsportal zeit.punktNRW, Link.
  • Totenzettel für Ferdinand Franz Wallraf, Druck (Du Mont-Schauberg)
    Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105, A 179, fol. 9v / Totenzettelsammlung der Universitäts- und Stadtbibliothek
    Bildnachweis: Totenzettelsammlung USB Köln, gemeinfrei.

Trauert, Kirche, Wissenschaft und Kunst! trauert, Bürger Kölns!“ – so beginnt der hymnische Totenzettel Ferdinand Franz Wallrafs, der anlässlich seiner Beisetzung auf dem Melatenfriedhof am 22. März 1824 an die Trauernden verteilt worden ist.[1] Und diese Trauernden sind: Alle Bürger*innen Kölns. Wer ist der Betrauerte? Mit intimen Worten beginnt der allgemeine Kurznachruf auf Wallraf in der Kölnischen Zeitung, gedruckt am 20. März 1824: „Unser Wallraf ist – nicht mehr unter den Irdischen.[2] Unser Wallraf – diese vertraute (oder sogar liebevolle?) Wendung macht den Kölner Sammler und Gelehrten zu einer zentralen Figur mit Bedeutung für ‚uns‘, also für ganz Köln. Die Kölner*innen trauern um ‚ihren Wallraf‘.

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Unser Wallraf“ – was hat das in den Jahren nach seinem Tod bedeutet? Und was bedeutet es heute? Um diese Fragen geht es in den folgenden Ausführungen, die auf den Tag genau zum 200. Todestag Wallrafs erscheinen. Weil es in dieser Publikation um das Image geht, das Wallraf vor allem seit seinem Ableben am 18. März 1824 umweht – und darum, was aus ihm nach seinem Tod gemacht wurde, wird hier nicht Wallrafs Biografie ausführlich erläutert. Als Leser*in könnte man nun entgegnen: „Ich weiß eigentlich gar nicht, wer dieser Wallraf war!“ – dann können Sie sich hier den „Crashkurs“ ansehen, ein kurzes Video mit den wichtigsten biografischen Informationen. Und hier finden Sie außerdem eine Zeitleiste zum Durchklicken, die Wallrafs Leben und die Umstände seiner Zeit verbindet. Doch nun dazu, wie die Nachwelt Wallraf gesehen hat.

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Vor wenigen Jahren gab es bereits ein Wallraf-Jubiläum in Köln: 200 Jahre war es her, dass Wallraf am 9. Mai 1818 sein drittes und letztgültiges Testament verfasst und darin die Stadt „zu ewigen Tagen“ als Universalerbin seiner Sammlungen eingesetzt hatte. Das Testament, vor allem die wichtigen Paragraphen 9 und 10 können Sie hier nachlesen, wo Sie außerdem eine ausführliche Beschäftigung mit Wallrafs letztem Willen finden. Mit Wallrafs Tod 1824 trat der Erbfall ein. Seine ca. 80.000 Stücke umfassende Sammlung wurde nun zunächst von seinen Testamentsexekutoren und weiteren Weggefährten geordnet. Diese Kommission erstattete 1826 dem Rat der Stadt Köln Bericht. Erst dann wurde das Erbe noch einmal offiziell von der Stadt und dem preußischen Staat rechtskräftig angenommen.[3] Das Testament lenkt die Aufmerksamkeit auf Wallrafs Rolle als Sammler und Stifter, aus dessen Schenkung die Kölner Museumsszene hervorgegangen ist – so kennen wir ihn heute nur allzu gut.

Eintrag zu Wallrafs Tod 1824 in Fuchs‘ Chronik,
Fuchs, Johann Jakob Peter, Chronik der Stadt Köln, 1824, Historisches Archiv mit rheinischem Bildarchiv, Best. 7030, Nr. 215, Teilband 1823, S. 57.
Bildnachweis: Historisches Archiv, Link.

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Zu seinen Lebzeiten gab es allerdings eine andere, gegenüber dem „Sammler“ sogar noch stärkere Rolle, die mit Wallraf verbunden wurde: Bereits Joachim Deeters merkt 1974 an, dass seine „Zeitgenossen […] zuerst in ihm den Lehrer sahen, weil er durch diese Tätigkeit mit so vielen Menschen in Berührung gekommen war.[4] Ein beredtes Zeugnis davon hat Johann Jakob Peter Fuchs abgelegt. Der Stadtkommissar und Weggefährte Wallrafs, der sich gemeinsam mit dem engen Wallraf-Vertrauten Matthias Joseph de Noel auch um die Ordnung der Sammlung besonders verdient gemacht hat, verzeichnete in seiner Chronik der Stadt Köln, die er ab 1815 führte und die im Kölner Stadtarchiv zu finden ist, folgende Würdigung zu Wallrafs Tod: „Am 18 März verlor die Stadt einen Lehrer[,] der sein ganzes Leben hindurch bemüht war, Alle zu lehren und auch noch nach seinem Tode die Mittel zur Bildung Aller hinterlassen wollte, sein ganzes Leben hindurch sammelte er mit außerordentlichen Aufopferungen diese Mittel, und nie mag die Stadt Cöln einen Einwohner [eingefügt: gehabt haben], der ihr mit mehr Liebe zugethan war als dieser Ferdinand Franz Wallraf, gebohren zu Cöln am 20 July 1748. Alle seine Sammlungen an Bücher aus allen Fächern, Zeichnungen und Kupferstiche[,] Gemälde aller Schulen, Mineralien u. s. w. vermachte er seiner Vaterstadt, damit sie zum Besten der Kunst und der Wissenscha[ft] benutzt würden.[5]

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Wallraf als Lehrer, der „Alle“ lehren wollte. So sahen ihn die Zeitgenossen also in erster Linie. Interessant ist die Betonung der „außerordentlichen Aufopferungen“ – ein wichtiges Motiv, das bei einer Thematisierung Wallrafs nur selten fehlt. Per aspera ad astra – auf mühsamen Wegen zu den Sternen! Der eingangs zitierte Totenzettel hatte das ebenfalls bereits ausformuliert: „Ausgerüstet mit einem Reichtum von Kenntnissen, die er, bei vorzüglichen Natur-Anlagen, doch sonst ungünstigen Verhältnissen, nur durch eigenes Streben errungen, stand er da – beispiellos in seinem durch Mühen und Opfer jeder Art bethätigten Eifer für geistige Schönheit, trachtend einzig in allen Stürmen der Zeit, zu retten und zu sammeln Schätze des Wissens und der Kunst aus der Vorzeit, zu fördern Schönes für Gegenwart und Zukunft.[6] Schon in seinem eigenen Testament – in der überaus chaotischen, erratischen zweiten Fassung aus dem Jahr 1816, hatte Wallraf dieses Image selbst kultiviert: „Meine, nur immer fur allgemeine Zwecke zum Wohl der Stadt Coln bestimmte Habseeligkeiten und Seltenheiten, die ich mit vielen Entbehrungen meiner, mir sonst freigestandenen Anwendung zu Lebensfreuden, Reisen etc. – mühesam und mit Kennerwahl meistens zusammengebracht hab, sollen also ihren Zweck nach meinem unvorgesehenen Tode nicht verfehlen.[7] Die Stadt hatte in der Annahme des Testaments von 1818 dieses Element in der Wallraf-Rezeption selbst reproduziert, denn in der Prunkausfertigung dieser Annahme heißt es, dass „Herr Professor Wallraf durch ein feyerlich errichtetes Testament, aus Liebe zu seiner Vaterstadt, seine mit vieler Mühe, und ausserordentlichem Kostenaufwand zusammen gebrachte Kunst- und Gemäldesammlung derselben zugedacht habe […].[8]

Straßenschild am Wallrafplatz, Foto 2016,
Bildnachweis: Skowronek, CC BY-NC-ND 4.0, Link

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Für diese Liebe Wallrafs zu seiner Stadt – und für die Aufopferungen, die er um ihretwillen auf sich genommen habe, gibt es in Köln eine bemerkenswerte Formel: Die des ‚Erzbürgers‘. In der hier vorgestellten Annäherung an das Verhältnis Kölns zu „unserem“ Ferdinand Franz Wallraf darf der Erzbürger keinesfalls ausgelassen werden. Ein besonders einschlägiges Beispiel für die Rede vom ‚Erzbürger Wallraf‘ ist die Gedenk-Plakette am WDR-Funkhaus[9], das sich auf dem Wallrafplatz befindet – mitten in der Innenstadt und nur einen Steinwurf vom Bronzedenkmal Wallrafs und  Richartz‘ am heutigen Standort des Museums für Angewandte Kunst entfernt. Wer vor der Plakette steht, die zugleich als Straßenschild dient, steht zugleich ziemlich genau auf dem Grundriss der langjährigen Wohnung Wallrafs, der Dompropstei. Und er oder sie kann dabei neben dem Platznamen folgendes lesen:

Ferdinand Franz Wallraf. 1748–1824. Begründer der Kölner Museen. Prof[essor]. Can[onicus], letzter gewählter Rektor der alten Universität Köln. Erzbürger Kölns / Dr. med. et. phil.

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Erzbürger Kölns.“ So lapidar steht es da, scheinbar ganz ohne die Notwendigkeit einer Erläuterung oder Begründung. Offenbar eine kölnische Selbstverständlichkeit. Eine Unzahl weiterer Beispiele, in denen Wallraf ähnlich selbstverständlich diesen Titel zugewiesen bekommt, ließe sich ergänzen. Im ‚Erzbürger‘-Titel liegt ein wichtiger Schlüssel, um sich der Frage anzunähern, in welchem Verhältnis die Stadt Köln und Ferdinand Franz Wallraf als eine zentrale Figur der Stadtgeschichte und Stadtkultur zueinander stehen – im nächsten Abschnitt wird also zu klären sein, was es eigentlich damit auf sich hat.

 


[1] Totenzettel Ferdinand Franz Wallrafs, Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105 (Ferdinand Franz Wallraf), A 179 (Wallrafs Begräbnis), fol. 9v.

[2] Kölnische Zeitung, Nr. 46 vom 20. März 1824.

[3] Vgl. dazu den Bericht der Testamentsexekutoren: O. A., Wallraf’sches Museum, in: Beiblatt der Kölnischen Zeitung Nr. 13 vom 8. Juli 1827.

[4] Deeters, Joachim, Ferdinand Franz Wallraf. Ausstellung des Historischen Archivs der Stadt Köln, Severinstraße 222–228, 5. Dezember 1974 bis 31. Januar 1975, Köln 1974, S. 107.

[5] Fuchs, Johann Jakob Peter, Chronik der Stadt Köln, 1824, Historisches Archiv mit rheinischem Bildarchiv, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen (C+D)), 215, Teilband des Jahres 1824, S. 57f.

[6] Totenzettel Ferdinand Franz Wallrafs (wie Anm. 1), fol. 9v.

[7] Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105 (Ferdinand Franz Wallraf), A 27 (Letztwillige Verfügungen), fol. 10r–24r, hier: fol. 13r.

[8] Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105 (Ferdinand Franz Wallraf), A 24 (Biographisches), fol. 37r–38r, hier: fol. 37r.

[9] Bisher ist es mir leider noch nicht gelungen, zu ermitteln, wann und in wessen Auftrag die Plakette dort angebracht worden ist.