Kapitel IIb: Wilhelm Smets und die Krönung des ‚Erzbürgers‘

Sebastian Schlinkheider

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Um der Entstehung der Rezeption Wallrafs als des Kölner ‚Erzbürgers‘ nun näherzukommen, ist es erforderlich, sich mit einer spezifischen Publikation zu beschäftigen, die auf die weitere Ausgestaltung des Bildes von und Wissens über Wallraf von erheblichem Einfluss war: Es handelt sich um die erste Biografie Wallrafs, verfasst vom Schriftsteller Wilhelm Smets.[1] Sie erschien beginnend mit dem 3. Juni 1824 – also kaum drei Monate nach Wallrafs Tod – als Reihe im Beiblatt der Kölnischen Zeitung über einen Zeitraum von über einem halben Jahr hinweg – der zehnte und letzte Teil wurde am 19. Dezember desselben Jahres abgedruckt.[2] Smets‘ „biografische Skizze“ ist eine Publikation, in der der Titel des ‚Erzbürgers‘ nun mit großer Selbstverständlichkeit an mehreren Stellen auftaucht. Nur wenige Tage nach dem Erscheinen des letzten Abschnitts im Zeitungsbeiblatt wurde zudem angekündigt, dass die von Smets‘ verfasste Wallraf-Biografie auch in einer eigenständigen Buchpublikation gedruckt erscheinen würde – darauf wird noch einzugehen sein.

Knappe Einladung zu Wallrafs Überraschungsfeier 1823, Kölnische Zeitung Nr. 114 vom 19. Juli 1823, Bildnachweis: gemeinfrei, Digitalisat: Zeitungsportal zeit.punktNRW, Link.

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Einen wichtigen Stellenwert und quantitativ fast 10 Prozent der ganzen biografischen Ausführungen nimmt die detailreiche Beschreibung der Jubelfeier von 1823 ein.[3] Selbstverständlich wird diese hier nicht vollständig wiedergegeben, aber es lohnt sich, auf einige Aspekte der Art und Weise einzugehen, wie Smets das Festgeschehen schildert. So ist es Smets zunächst äußerst wichtig, zu betonen, dass das Fest heimlich, als Überraschung für den Jubilar Wallraf vorbereitet worden sei. Und tatsächlich: Öffentlich tritt das Fest nur sehr verklausuliert am Vortag, also am 19. Juli 1823, in der Kölnischen Zeitung in Erscheinung[4] – in der knappen unscheinbaren Formulierung: „Die an der morgigen Jubelfeier Theilnehmenden sind gebethen, sich präzise halb 9 Uhr auf dem Stadthause einzufinden.“ Interessant ist nebenbei bemerkt, dass hier in der gescannten Ausgabe der Zeitung jemand handschriftlich – wenn auch falsch geschrieben – „von Walraff“ ergänzt hat.

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Daneben betont Smets von Beginn an – und diese Charakterisierung zieht sich durch die gesamte Beschreibung des Feiergeschehens, dass die Feier von der ganzen städtischen Bevölkerung gestaltet und getragen worden sei. In pathetischen Worten leitet er das Geschehen des Festtags und seinen Stellenwert für die Stadt Köln ein: „Der Tag erschien; wie ein Blitz zuckte seine Bedeutung durch alle Klassen des Volkes, und was in der Stille jeder seinem Wirkungskreise gemäß bereitet hatte, trat nun in That und Leben hervor und der Tag wurde, wie das so die Natur der Sache mit sich brachte, im vollen und wahren Sinne des Wortes ein Volksfest.[5] Leonard Ennen, dessen Wallraf-Buch dreißig Jahre später erscheint, schließt sich dieser Deutung erkennbar an: „Die hohe Achtung, welche Wallraf in seiner Vaterstadt genoß, bekundete sich in der allgemeinen Theilnahme, mit der die gesammte kölner Bürgerschaft den Jubeltag seines fünfzigjährigen Priesterthums feierte. Die schlichtesten Bürger wetteiferten mit dem angesehensten und höchstgestellten Theile der kölner Einwohnerschaft, um dem gefeierten Jubelgreise eine Anerkennung zu zollen, wie solche noch selten einem Sohne der ehrwürdigen Colonia zu Theil geworden war.[6]

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Die einzelnen Stationen dieses „Volksfestes“ werden von Smets ausgeschmückt geschildert, sie sind aber auch in einer Reihe von Dokumenten in Wallrafs Nachlass[7] recht präzise nachvollziehbar. Viele Aspekte sind hier interessant, etwa der von Smets als ausdrücklicher „Triumphzug“ charakterisierte Festumzug durch die Kölner Innenstadt, die Aufführung eigens gedichteter Weihelieder auf Wallraf durch schulische Sängerchöre und die aufwendigen Dekorationen Kölns durch die Stadtvertretung und auch die Bevölkerung. Das erste Aufeinandertreffen Wallrafs mit der ihn in seiner Wohnung abholenden Stadtbevölkerung wird besonders eindringlich geschildert: „Vom Stadthause begab sich der Zug auf den geräumigen Platz vor der Dom-kirche, den Domhof. Nun erschien der Gefeierte […]. Ein lautes, einhelliges Lebehoch, wozwischen sich dann und wann ein enthusiastisches Hurrah mischte, begleitet vom Schalle der Trompeten und Pauken, empfing den muthig Einherschreitenden, dem nun des Alters Bürde zu schwinden schien, dem das Auge bescheiden freudig glänzte, der aber auch Thränen der Rührung nicht bergen konnte. Da pochten tausend Herzen zugleich dem Jubelgreise entgegen, jede Wange röthete sich vor Theilnahme, häufige Thränen flossen, Alles hob sich auf den Zehenspitzen empor, Tücher weheten, Hände streckten sich dem Kunst-Rektor, dem Jubelpriester und Lehrer entgegen. Und er selbst, überrascht, erfreut, dankend, weinend und Gott die Ehre gebend, winkte nach allen Seiten hin, hob sein Auge zum Himmel empor und that sich Gewalt an, daß ihn dieser Drang der Gefühle nicht überwältigte.“ Beschreibungen dieser tiefen emotionalen Ergriffenheit Wallrafs und seiner Mitbürger*innen finden sich bei Smets immer wieder. Hier kann man einen der gesungenen Chortexte nachlesen. Köln ist schließlich e Jeföhl.

Ansprache des städtischen Beigeordneten Langen bei Wallrafs Jubelfeier 1823, Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105, A 26, fol. 13,
Bildnachweis: Historisches Archiv, Link.

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Den für den hier vorgestellten Zusammenhang wichtigsten Kern des Feiergeschehens bildet aber sicher eine besondere Zeremonie, die man als eine regelrechte Krönung Wallrafs verstehen kann. Nacheinander wurden Wallraf drei Kränze aufgesetzt, die jeweils eine eigene symbolische Aufladung erfuhren: Der städtische Beigeordnete Langen machte den Anfang und verlieh Wallraf nach einer im Archiv überlieferten Ansprache einen Eichenkranz, der zweite Kranz aus Lorbeer wurde vom bereits erwähnten Lehrer Kreuser als Repräsentant der Wissenschaft verliehen, bevor Wilhelm Smets selbst als Vertreter der Kunst Wallraf schließlich einen dritten, nämlich einen Blumenkranz aufsetzte. Obwohl der Beigeordnete Langen den Eichenkranz immerhin ausdrücklich als „Bürger-Krone“ charakterisiert, die Wallraf „wohlverdient“ „aus den Händen der Vorsteher“ seiner „Vaterstadt“ erhalte, ist in keiner der dazu überlieferten Ansprachen oder Lobgedichte von einem ‚Erzbürger‘, sondern abermals nur von „Mitbürgern“ die Rede. [8] Hier kann man den Text nachlesen.

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Kreusers weihevolles Lobgedicht „An Wallraf“, das im Beiblatt der Kölnischen Zeitung für Wallraf veröffentlicht wurde, vermeidet den Begriff ‚Erzbürger‘ ebenfalls, obwohl die letzte Strophe durchaus Gelegenheit dazu gegeben hätte, denn sie lautet:

Einst war ein lieber Brauch in alten Tagen

In unsrer Väter hoher Mutterstadt:

Nichts Edlers konnt ein edler Bürger tragen,

Als diesen Kranz vom Volke und Senat.

Die stummen Blätter sollten Jedem sagen,

Was ihr Mitbürger für sie Alle that.

Drum, weil es ziemt in edler Bürger Mitte,

Kränz’ ich des Meisters Haupt nach alter Sitte.[9]

 

Hätte der ‚Erzbürger‘ irgendeinen Stellenwert zu dieser Zeit gehabt, dann hätte es derart auf der Hand gelegen, hier das Wort „Mitbürger“ entsprechend zu ersetzen, dass man fast zwangsläufig den Umkehrschluss ziehen muss: Im Feiergeschehen scheint der ‚Erzbürger-Titel‘ keinerlei Rolle zu spielen, weder offiziell-städtisch, noch in der begleitenden Ausschmückung durch die Zeitgenossen und Freunde des Gefeierten.

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Gibt es also so gar keine Verbindung des ‚Erzbürgers‘ zu 1823, die aus der Bürger-Krone eine ‚Erzbürgerkrone‘ machen würde? Nicht so schnell! Folgt man der Darstellung bei Smets, dann wird offenkundig, dass zumindest er eine Verbindungslinie zum Ehrentitel Wallrafs etablieren wollte. Schaut man auf die Schilderung der dritten, bezeichnenderweise von ihm selbst (!) vorgenommenen Bekränzung, dann liest man dort: „Es lebe der zum dritten Mal Bekränzte! fügte er [also Smets, Anm. S. Sch.] hinzu, und stürmisch schallte Beifallsbezeugung dem Erzbürger entgegen.[10] Man kann diese Passage durchaus so lesen, dass der „bekrönte[ ] Bürger[11] Wallraf für Smets durch den Akt der dreifachen Bekränzung gewissermaßen als der inthronisierte ‚Erzbürger‘ erscheint. Drei Kränze und viel Jubel von der Stadt – das braucht es offenbar, um aus einem leidenschaftlichen Lehrer und aufopferungsvollen Sammler einen ‚Erzbürger‘ zu machen!


[1] Smets, Wilhelm, Ferdinand Franz Wallraf. Ein biographisch-panegyrischer Entwurf, Köln 1825.

[2] Smets, Wilhelm, Ferdinand Franz Wallraf. Eine biographische Skizze, in: Beiblatt der Kölnischen Zeitung, Nr. 10 vom 3. Juni 1824 bis Nr. 24 vom 19. Dezember 1824.

[3] Vgl. Smets, Wallraf (wie Anm. 1), S. 74–82.

[4] Kölnische Zeitung, Nr. 114 vom 19. Juli 1823.

[5] Smets, Wallraf (wie Anm. 1), S. 74.

[6] Ennen, Leonard, Zeitbilder aus der neueren Geschichte der Stadt Köln, mit besonderer Rücksicht auf Ferdinand Franz Wallraf, Köln 1857, S. 387.

[7] Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1105 (Ferdinand Franz Wallraf), A 26 (Besondere Ereignisse).

[8] Ebd., fol. 13.

[9] Lobgesänge und Gedichte auf Wallraf aus Anlass seiner Geburtstags- und Jubiläumsfeier: Beiblatt der Kölnischen Zeitung, Nr. 14 vom 20. Juli 1823 und Nr. 15 vom 10. August 1823. Im Gedicht von einem gewissen „Willmann“ lautet eine Strophe: „Du sey das Ziel des Liedes, Himmelssohn, | Du Liebling deines Volkes, Du Stolz der Stadt, | Du Ferdinand! Was Kölner heißet, | Nennet dich Hoffnung und Hort und Liebling.

[10] Smets, Wallraf (wie Anm. 1), S. 78.

[11] Ebd.