Der Beantwortung der Frage, was ein ‚Erzbürger‘ ist, kann man sich auf unterschiedlichen Wegen nähern. Sinnvoll ist es sicher, sich zunächst zu fragen, was die Vorsilbe „Erz-“ in Verbindung mit dem „Bürger“ eigentlich heißen soll. Für uns wie auch für die Zeitgenossen des beginnenden 19. Jahrhunderts lässt sich diese Frage leicht beantworten: Wir kennen auch heute noch beispielsweise den Erzengel, den Erzbischof und den Erzfeind. Das rheinische Konversations-Lexikon, passenderweise im Jahr 1824 in Köln und Bonn erschienen, erläutert die Vorsilbe so: „Erz […] wird mehrern Aemtern vorgesetzt, um das Vornehmste in seiner Art, im guten und bösen Sinne zu bezeichnen.“[1]
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Ein ‚Erzbürger‘ wäre also der Vornehmste der Bürgerinnen und Bürger. Mit dieser Erläuterung der schlichten Bedeutung des Begriffs ‚Erzbürger‘ ist allerdings noch nicht geklärt, in welchen Zusammenhängen die Titulierung Wallrafs als ‚Erzbürger Kölns‘ eigentlich steht. Die erste Reaktion, die aus heutiger Sicht sehr naheliegend erscheint, lautet: Es wird doch sicher eine Ehrenbürgerwürde sein! Ehrenbürger gab es im deutschsprachigen Raum seit den 1790ern in unterschiedlichen Städten – denkbar wäre also, dass es sich bei Wallrafs Erzbürgertitel um eine Ehrenbürgerwürde handelt. Dies würde wiederum bedeuten, dass es eine offizielle Ernennung seitens der Stadt gegeben hätte, in der Wallraf mit dem Titel ‚Erzbürger‘ ausgezeichnet worden wäre. Hier sehen wir zum Beispiel die online abrufbare Ehrenbürger-Urkunde Alfred Neven DuMonts.[2] Und tatsächlich lassen sich Stimmen finden, die für Wallraf als ‚Erzbürger‘ genau einen solchen Zusammenhang herstellen oder zumindest nahelegen:
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Der Untertitel der 2017 erschienenen Wallraf-Biografie von Klaus Müller lautet: „Gelehrter, Sammler, Kölner Ehrenbürger“.[3] In einem Artikel der Zeitschrift des Vereins Alt Köln taucht 1972 mit beiläufiger Selbstverständlichkeit eine Kombination der beiden Titel auf, dort ist Ferdinand Franz Wallraf „Kölns verdienter Erz- und Ehrenbürger“.[4] Und Helmut Signon schreibt 1975 in seiner bis heute immer wieder aufgelegten Abhandlung „Alle Straßen führen durch Köln“ zu den Kölner Straßennamen über Wallraf: „Er war in Wahrheit der ‚Erzbürger‘ Kölns, zu dem ihn die dankbare Vaterstadt später ernannte – der erste Kölner Ehrenbürger.“[5] Viele weitere Beispiele ließen sich ergänzen. Einzelne Stellungnahmen beziehen sich auf Wallraf auch ganz ausdrücklich als offiziellen ersten Ehrenbürger der Stadt, wie sich mit einem Artikel des Kölner Stadt-Anzeigers von 2014 illustrieren lässt: Darin wird über die Vertreter*innen der westfälischen Adelsfamilie von Fürstenberg gesprochen und festgehalten: „Einer von ihnen, Franz Egon, wurde 1856 Ehrenbürger Kölns, als zweiter überhaupt nach Ferdinand Franz Wallraf, dem die Ehrung 33 Jahre vorher zuteil wurde.“[6]
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Die Stadt Köln widerspricht auf ihrer Homepage stumm, aber doch sehr eindeutig: Wallraf findet sich nicht in der Aufstellung der Kölner Ehrenbürger*innen[7] – und bei Franz Egon Graf von Fürstenberg-Stammheim findet sich der explizite Hinweis: „Am 18. Dezember 1856 wurde die erste offizielle Kölner Ehrenbürgerwürde verliehen“. Ein offizieller Ehrenbürger ist Ferdinand Franz Wallraf also nicht. In einigen anderen Stellungnahmen über Wallraf scheint dieser Zusammenhang durchaus bekannt zu sein – hier wird etwas ausweichend die Bezeichnung Wallrafs als ‚Erzbürger‘ als eine Vorform der Ehrenbürgerwürde qualifiziert. So schreibt der Journalist Martin Oehlen in einem Artikel im Kölner Stadt-Anzeiger vom 21. März 2018: „[Wallraf] wurde 1823 in der preußischen Ära mit der höchsten städtischen Ehrung bedacht – der Ernennung zum ‚Erzbürger‘.“ In einer chronologischen Aufstellung in demselben Artikel wird zum Jahr 1823 noch einmal erläutert: „1823 | Wallraf wird zum ‚Erzbürger‘ der Stadt ernannt. Er ist der einzige in der Kölner Geschichte – in der Folgezeit wurden ‚Ehrenbürger‘ auserkoren.“[8]
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Dies ist nur ein Beispiel unter vielen möglichen, denen gemeinsam ist, dass eine explizite Verbindung des ‚Erzbürger‘-Titels mit dem Jahr 1823 hergestellt und eine formelle Ernennung seitens der Stadt angedeutet wird. Sehen wir uns das etwas genauer an: Am 20. Juli 1823 – in diesem Sommer also vor 200 Jahren – fand in Köln eine städtische Jubelfeier zu Ehren Wallrafs statt – der doppelte Anlass bestand in seinem 75. Geburtstag und seinem 50-jährigen Priesterjubiläum. Sucht man im Umkreis dieser Jubelfeier nach dem Titel des ‚Erzbürgers‘, so stellt man zunächst etwas ernüchtert fest, dass er in der unmittelbaren Überlieferung zur Jubelfeier überhaupt nicht auftaucht. Der Bericht der Kölnischen Zeitung vom 22. Juli 1823, der also im unmittelbaren Nachgang der Feierlichkeiten erschien, erwähnt den Titel ‚Erzbürger‘ nicht – stattdessen ist vom „Jubelgreis“ und schlicht dem „Gefeierten“ die Rede.[9] Auch die im Juli und August 1823 im Beiblatt der Kölnischen Zeitung erschienenen ausführlichen Zusammenstellungen von Gedichten, Chronogrammen und Glückwunschbekundungen von Schülern und Weggefährten Wallrafs lassen keinen Hinweis auf einen ‚Erzbürger‘ finden[10] Das gleiche trifft auf den Bericht des Welt- und Staatsboten vom 22. Juli 1823 zu, in dem vom „verehrten Jubelgreise“, aber nicht vom ‚Erzbürger‘ gesprochen wird.[11] Wäre die Ernennung Wallrafs zum ‚Erzbürger‘ bei diesem Fest ein prominenter oder gar offizieller Teil des Programms gewesen, dann wäre das wohl kaum in diesen Publikationen unterschlagen worden, schon gar nicht, weil diese sehr deutlich die Signatur einer Verherrlichung Wallrafs tragen.
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Lässt man sich von diesem ersten Blick in die Quellen nicht entmutigen, so findet sich bei genauerer Suche tatsächlich der erste greifbare Nachweis eines ‚Erzbürgers Wallraf‘ im Zusammenhang mit der Feier von 1823: Die Bezeichnung taucht nämlich erstmals im anonym unter der Autorangabe: „X. Y.“ veröffentlichten Bericht zur Feier im Kunst- und Wissenschaftsblatt auf, der allerdings erst am 6. Dezember 1823, also fast fünf Monate nach dem Fest erschien.[12] „Herr X. Y.“ ist, wie man aufgrund eines deutlichen Hinweises in einer späteren Publikation[13] annehmen kann, Johann Peter Balthasar Kreuser, ein Lehrerkollege Wallrafs am preußischen Gymnasium und Schriftsteller. Mitten in dem ausführlichen Artikel zur Jubelfeier kommt der ‚Erzbürger‘ in folgender Passage vor: „Unbeschreiblich war der Andrang der Zuschauer und das Gejubel der Menge auf den Straßen, Dächern und in den Fenstern; denn Jeder fühlte es tief, was der Erzbürger seiner Stadt war und fortwährend ist […].“[14] Die einmalige Verwendung dieses Titels geschieht im Text äußerst beiläufig: Sie steht an keiner prominenten Stelle und wird von den vielen anderen Referenzen auf Wallraf, die ihn etwa als „Jubelgreis“ und „wackern“ oder „edlen Bürger“ nennen, überdeckt. Das Auftreten des Titels ‚Erzbürger‘ geschieht hier derart peripher und unauffällig, dass sich daraus allein wohl kaum erklären ließe, warum er in der Kölner Rezeption so eng, langfristig und exklusiv mit Wallraf verknüpft worden ist.
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Knapp drei Monate nach diesem Bericht zur Feier von 1823, nämlich am 18. März 1824, starb Ferdinand Franz Wallraf an den Folgen eines Schlaganfalls. Dass in seiner letzten Lebensphase der Titel ‚Erzbürger‘ ganz und gar nicht allgemein etabliert war, wird auch in den direkten Reaktionen auf seinen Tod deutlich, in denen der Titel nicht auftritt: Als erstes Beispiel kann der bereits in Kapitel I zitierte Nachruf in der Kölnischen Zeitung dienen – in dem es nach der warmherzigen Eingangsformel: „Unser Wallraf – ist nicht mehr unter den Irdischen“ später ausdrücklich heißt: „[D]ie Kölner nennen ihn mit Stolz ihren Mitbürger“.[15] Wenn Wallraf schon im allgemeinen Bewusstsein der Stadtbevölkerung der ‚Erzbürger‘ der Stadt gewesen wäre und nicht nur einMitbürger, hätte man das wohl in dieser Formulierung in jedem Falle untergebracht – der Erzbürger fehlt hier jedoch, genauso wie in der Traueranzeige des Gymnasiums einige Tage später, in der es heißt: „Noch trauern Köln’s edelste Bürger über den Verlust eines der Edelsten aus ihrer Mitte“.[16] Der Nachruf in der kurzlebigen Zeitschrift Agrippina[17] lässt den Titel ebenso aus wie Wallrafs bereits genannter Totenzettel und auch schließlich Johann Peter Balthasar Kreusers im Kölner Stadtarchiv überlieferte ausführliche Gedenkrede auf den Toten bei einer Trauerfeier im Gymnasium.[18] Kreuser selbst also, der noch drei Monate zuvor für die erste nachweisbare Nutzung des Titels ‚Erzbürger‘ verantwortlich gewesen war, griff diese Bezeichnung für Wallraf in seiner hymnischen, aber auch etwas allgemein gehaltenen Lobrede auf den Verstorbenen nicht wieder auf. Ein weiteres Beispiel stellt die bereits zitierte Stadtchronik von Johann Jakob Peter Fuchs dar, der Wallraf persönlich nahestand und einer seiner Testamentsexekutoren wurde – und der weder 1823 noch 1824 in der Zusammenfassung der städtischen Ereignisse ein Wort über einen ‚Erzbürger‘ verliert. Im Eintrag von 1824 ist Wallraf schlicht ein „Einwohner“ der Stadt.[19]
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Es gibt eine recht einsam dastehende Ausnahme – einen zweiten, äußerst beiläufig erscheinenden Fund des ‚Erzbürgers‘, der die spätere Prominenz dieses Titels allerdings ebenso wenig erklärt wie Kreusers bereits zitierte unauffällige Formulierung von 1823. Trotzdem soll sie hier nicht unterschlagen werden: In einer Subskriptions-Anzeige aus der Kölnischen Zeitung vom 27. März 1824 machte eine Kölner Buchhandlung Werbung für ein Wallraf-Porträt, der Text lautet wie folgt: „Die unterzeichnete Buchhandlung glaubt, dem hiesigen und auswärtigen Publikum keine gleichgültige Nachricht mitzutheilen, wenn sie ihr Vorhaben äußert, ein überaus wohlgetroffenes […] Bildnis des gefeierten Erzbürgers Kölns, des der Kirche, der Kunst und der Vaterstadt zu früh entnommenen Prof. Dr. Wallraf […] herauszugeben. Die Zeichnung ist der Art, daß man wohl sagen kann: Ja, das ist Er, so wie er leibt und lebt! […] Seine Verehrer, seine Schüler und Freunde sind zu zahlreich, als daß ein solches Unternehmen nicht mit Erfolg sollte gekrönt werden […].“[20]
[1] Rheinisches Conversations-Lexicon oder enzyklopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, hrsg. von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten, Bd. 4: D-E, Köln / Bonn 1824, hier: Stichwort „Erz-“, S. 647.
[3] Müller, Klaus, Ferdinand Franz Wallraf. Gelehrter, Sammler, Kölner Ehrenbürger, Köln 2017.
[4] Alt-Köln. Heimatverein zur Pflege kölnischer Geschichte, Sprache und Eigenart [Mitteilungen] Nr. 7 (1974), o. S.
[5] Signon, Helmut, Alle Straßen führen durch Köln, Köln 1975, S. 207.
[6] Schäfer, Uwe, Das Schloss wird wieder sichtbar. Pflanzaktion. IG Rheinblick zeichnet die Umrisse des alten Stammheimer Prachtbaus nach, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. [unbek.] vom 11. September 2014.
[8] Oehlen, Martin, Besessen von Kunst und Köln. Ferdinand Franz Wallraf war leidenschaftlicher Sammler, Universitätsrektor und intellektueller Tausendsassa, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 68 vom 21. März 2018.
[9] Kölnische Zeitung, Nr. 116 vom 22. Juli 1823.
[10] Beiblatt der Kölnischen Zeitung, Nr. 14 vom 20. Juli 1823 sowie Nr. 15 vom 10. August 1823.
[11] Welt- und Staatsbote, Nr. 116 vom 22. Juli 1823. (Ausgabe ist einzig überliefert in einem Bestand des Historischen Archivs Köln: Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 400 (Zentralregistratur des Oberbürgermeisters (vor 1883)), A 3533 (Fünfzigjährige Jubelfeier von Wallraf am 20. Juli 1823), fol. 17r–19v).
[12] [Kreuser, Johann Peter Balthasar], Wallraf‘s Jubelfeier am 20. Juli d. J., in: Kunst- und Wissenschaftsblatt. Beiblatt zum Rheinisch-Westfälischen Anzeiger, Nr. 49 vom 6. Dezember 1823, Sp. 769–775.
[13] Limper, Wilhelm, Aus der Geschichte der Anstalt. Ferdinand Franz Wallraf, in: BURSA TRICORONATA. Mitteilungen der Vereinigung ehemaliger Schüler des Dreikönigs- früheren Marzellengymnasiums zu Köln 2 (1938), S. 1–10, hier: S. 10: „Einen ausführlichen Bericht über die ganze Feier veröffentlichte Kreuser im Kunst- und Wissenschaftsblatt des Rheinischen Anzeigers vom 6. Dezember 1823 […].“
[16] Kölnische Zeitung, Nr. 52 vom 30. März 1824. Wallrafs Platzierung als eines der Edelsten unter den Edelsten ist sehr bemerkenswert – in Kapitel II c) wird das mit der noch stärker verallgemeinerten Wendung „primus inter pares“ noch einmal aufgegriffen.
[17] O. A., Nachruf auf Ferdinand Franz Wallraf, in: Agrippina. Zeitschrift für Poesie, Literatur, Kritik und Kunst, Nr. 37 vom 24. März 1824, S. 148, vgl. auch den Beitrag Schlinkheider, Sebastian, „Unser Wallraf ist – nicht mehr unter den Irdischen“ – die Reaktionen auf Wallrafs Tod, in: Ders. / Schläwe, Elisabeth, Letzter Wille mit großer Wirkung – Die Testamente Ferdinand Franz Wallrafs (1748–1824), in: mapublishing-lab, 2018, URL: https://wallrafswille.mapublishing-lab.uni-koeln.de/beitraege/reaktionen-auf-wallrafs-tod (letztes Abrufdatum: 29.02.2024).
[18] Kreuser, Johann Peter Balthasar, Gedenkrede auf Ferdinand Franz Wallraf vom 31. März 1824, Historisches Archiv mit Rheinischem Bildarchiv, Best. 1277 (Kreuser, Johann Peter Balthasar), A 7, fol. 1r–8v.
[19] Fuchs, Johann Jakob Peter, Chronik der Stadt Köln, 1824, Historisches Archiv mit rheinischem Bildarchiv, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen (C+D)), 215, Teilband des Jahres 1824, S. 57f.