Kapitel IIc: ‚Erzbürger Wallraf‘ – aber wozu?
Sebastian Schlinkheider
<1>
Versucht man nun in diesem Sinne die Schilderungen der Ereignisse von 1823 einer zusammenfassenden Deutung zu unterziehen, dann wird darin eine Reihe von Botschaften deutlich, die hier in drei Thesen zusammengefasst werden sollen: Die Ausgangssituation, die Smets beschreibt, lautet wie bereits erwähnt: Die ganze Stadtbevölkerung Kölns feiert den „Jubelgreis“ Wallraf und erschafft dabei – vertreten durch exponierte Bürger – in einer Krönungszeremonie den ‚Erzbürger‘. Die erste These dazu lässt sich so formulieren: Mit dem Titel des ‚Erzbürgers‘ ist eine Chiffre gefunden, die zum Ausdruck bringt, dass Wallraf die kölnische Bürgerschaft – und letztlich die ganze Idee der Stadt regelrecht verkörpert.
<2>
Hierbei lohnt es sich doch noch einmal zur Wortbedeutung von „Erz-“ zurückzukehren, und zwar anhand der aktuellen Bestimmung im Duden. Hier heißt es: „[Erz-] drückt in Bildungen mit Substantiven aus, dass eine Person – seltener eine Sache – etwas von Grund auf ist, etwas ganz und gar verkörpert.“ Als Beispiele dieses „emotional verstärkend“ wirkenden Präfixes werden „Erzheuchler“, „Erzkapitalist“ und „Erzlüge“ angegeben – oder, im adjektivischen Gebrauch: „erzfrech“ und „erzmisstrauisch“.
<3>
Wenn dieses Fest von 1823, wie sich gezeigt hat, in der Rezeption regelmäßig als Geburtsstunde und Ernennungszeremonie des ‚Erzbürgers‘ gedeutet wird, dann ist darin also keineswegs nur ein Ehrentitel für die individuellen Leistungen Wallrafs zu sehen, der ihn über seine Mitbürger*innen erheben würde: Stattdessen macht dieser Titel Wallraf vielmehr zu ihrem Spiegel oder Repräsentanten. Er wird durch die Formel des ‚Erzbürgers‘ in der Mitte seiner Mitbürger*innen platziert, die in ihm zugleich ihre Verkörperung sehen können. Er wird, so könnte man es ausdrücken, unter den Agrippinenses zum primus inter pares – und damit erst zu einem personifizierten Identifikationsangebot für alle Kölner*innen. Gerade die Tatsache, dass der Titel Wallraf nicht offiziell-städtisch verliehen wird, sondern Smets ihn gleichsam als Proklamation aus der Stadtbevölkerung heraus darstellt, macht den ‚Erzbürger‘ zu einer emotionalen Projektionsfläche. Dass die Zeitgenossen ihn – wie in der ersten öffentlichen Reaktion auf seinen Tod 1824 in der Kölnischen Zeitung – beinahe liebevoll als „Unser Wallraf“ bezeichnen, lässt sich das als eine weitere Ausformulierung eben dieses emotionalisierten Verhältnisses deuten.
<4>
Um das weiter zu illustrieren, lässt sich nochmals auf Smets’ Beschreibung der Jubelfeier von 1823 zurückgreifen: Recht beiläufig in einer Fußnote berichtet Smets von einer – wie er angibt – spontanen Äußerung aus den Reihen der Kölner Bürgerschaft während der Feierlichkeiten: „Auch bei dieser Gelegenheit erwiesen sich manche unvorbereitete Aeußerungen aus dem Munde des Volkes höchst originell und treffend. So fragte, während der Zug vom Rathhause nach Wallraf’s Wohnung sich in Bewegung setzte, ein Bürger den andern ganz naiv: ‚Wenn nun der Wallraf stirbt, wer wird dann der Wallraf?‘ gleichsam, als wenn er sich von der Einsicht, daß ein solcher Mann für Köln müsse ersetzt werden, und doch auch unersetzbar sey, nicht hätte trennen können.“
<5>
Die zweite These lautet, dass auf dem Weg der Jubelfeier und mit dem Titel des ‚Erzbürgers‘ die Stadt Köln und ihre Bürger*innen sich gewissermaßen selbst gefeiert haben. Diese These kann sich zum Beispiel auf den bereits zitierten Artikel Kreusers im Kunst- und Wissenschaftsblatt stützen, in dem der ‚Erzbürger Wallraf‘ zum ersten Mal aufgetreten war. Der Beginn des Artikels lautet: „Am 20. Juli d. J. feierte unsere alte Stadt einen merkwürdigen Tag, der um so mehr Erwähnung verdient, als er ein reines Fest der Kölner war, das ihren dankbaren Gemüthern nicht weniger Ehre macht, als dem Gefeierten. Die Stadt nämlich feierte das Jubelfest ihres wackern Bürgers und Greisen, Ferdinand Wallraf, der fünfzig Jahre Priester, länger schon ordentlicher Lehrer, nicht nur sein ganzes Leben, sondern man möchte fast sagen, jeden Athemzug dem Wohl seiner Vaterstadt geopfert.“
<6>
Das Geburtstags- und Jubiläumsfest, das augenscheinlich in erster Linie Wallrafs Lebenswerk feiern und folglich vor allem die vielfältigen Verdienste um seine Heimatstadt hervorheben sollte, wirkte also offenbar zugleich reziprok in die andere Richtung: Über die Betonung der Verdienste Wallrafs um die gemeinsame Heimatstadt Köln verherrlichten die Bürger auch die Entwicklung ihrer Stadt und letztlich sich selbst. In dieser Weise deutet auch der Kölner Archivar Joachim Deeters 1974 im nach wie vor unverzichtbaren Begleitband zur Jubiläumsausstellung zu Wallrafs 150. Todestag die Feierlichkeiten: „In Wallraf feierte Köln seine eigene ruhmreiche Vergangenheit, die der Stadt erst durch den Gefeierten bewußt geworden war, und an der sie sich in der neuen, unfreundlichen preußischen Gegenwart aufrichtete.“
<7>
Die dritte These schließlich lautet, dass sich aus den beiden vorherigen Schritten – also: Der ‚Erzbürger‘ verkörpert Köln und seine Bürger*innen – und im ‚Erzbürger‘ feiern diese sich als Kölner*innen selbst – die Aufforderung ableitet, in Wallrafs Nachfolge zu treten und es ihm gleichzutun. Smets selbst bekräftigt diese Funktion in einer weiteren Anekdote aus dem Zusammenhang der Jubelfeier: „Nun bewegte sich bald Jeder […] um den Gefeierten, Alt und Jung, Groß und Klein, Alle suchten ihren Spruch, ihren Glückwunsch, ihre Freude darzubringen und an den Tag zu legen; Männer und Greise hoben, Thränen im Auge, ihre kleinen Söhne und Enkel aus den Armen empor, und wiesen mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das graue, ehrwürdige Haupt Wallraf’s hin und flüsterten ihnen zu: ‚Sieh, der ist’s, der alte Herr mit dem weißen Haupte; besieh ihn wohl, das ist der Wallraf!‘ Jünglinge standen mit hochklopfenden Herzen da und ihre Blicke glitten unwillkührlich auf den dreifachen Schmuck der Bürgerkrone, der Kränze für Kunst und Wissenschaft hin, und sie faßten den Entschluß, auch einstens, nacheifernd dem Beispiele des Gefeierten, solchen Lohn von ihren Mitbürgern verdienen zu wollen.“
<8>
In einer äußerst eng an Smets‘ Schilderung angelehnten Wiederaufnahme dieser Anekdote in einem anderen Publikationszusammenhang, nämlich in Friedrich Adolf Becks Lebensbildern aus dem Preußischen Rheinlande von 1832, wird die Formulierung noch einmal zugespitzt, hier heißt es nämlich aus dem Mund der Väter und Großväter gar: „‚Sieh, der ist’s, der alte Herr mit dem weißen Haupte, besieh ihn wohl, das ist der Vater Wallraf!‘“
<9>
Wie bereits erwähnt, veröffentlichte Smets seine Biografie 1825 noch einmal als gedrucktes Buch. In einem neuen Vorwort wird die Vorbildrolle des ‚Erzbürgers Wallraf‘ ausdrücklich benannt – nach einem etwas umständlichen und sentenzenhaften Einstieg („Jede, zur deutlichen Anschauung uns gebrachte menschliche Individualität zieht uns auf eine wundersame Weise an; sie ist nicht unser eigenes Ich, sie steht außer unserm Selbst, und doch erkennt man darin, in schwachen oder starken Zügen, die Gattung, und jeder sich selbst, wieder.“
<10>
Diese Botschaft wird besonders nachdrücklich in einer mehrfach wieder abgedruckten Werbeannonce in der Kölnischen Zeitung platziert, die Ende des Jahres 1824 – das Erscheinen des letzten Teils der Biographischen Skizze liegt nur wenige Tage zurück –, das Erscheinen des Buches „zu Neujahr“ bei DuMont-Schauberg ankündigt:
„Diese Biographie des kölnischen Erzbürgers hat so vielfältigen Beifall erhalten, da sie in den Beiblättern der Kölnischen Zeitung vor und nach erschien, daß die Verlagsbuchhandlung, indem sie dieselbe hier in einem besondern Abdrucke zusammengestellt liefert, nicht an der allgemeinen Theilnahme, zunächst von Seiten der Mitbürger Wallraf’s, zweifeln darf; zumal da sie, das Werkchen auch dem Aeußern nach sehr wohl auszustatten, bemühet war. […]
Was aber den Zeitpunkt anbelangt, in welchem dieses Werkchen erscheint, so kann die unterzeichnete Verlagsbuchhandlung nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, daß dasselbe sich, sowohl für Köln, als auch für das Rheinland im Allgemeinen, zu dem zweckmäßigsten Neujahrsgeschenke für die erwachsene männliche Jugend eignet.
<11>
Wallrafs ‚Erzbürger‘-Titel und seine Vorbildrolle für Köln sind bei Smets aufs engste miteinander verbunden – das zeigt sich auch in einer Passage, in der Smets die letzte Lebensphase Wallrafs ab 1818, kurz vor der Abfassung seines dritten Testaments im Mai, einleitet. Der ‚Erzbürger‘ taucht besonders prominent noch einmal auf, um das Leitmotiv dieser Lebensphase zu charakterisieren. Zu Unrecht würde die Nachwelt den „großen Erzbürger“ als „kargen, eigensinnigen Kunstsonderling“ auffassen: „Von dieser Zeit an näherte sich Wallraf's irdische Laufbahn mit starken Schritten ihrem Ende; dieses gewahrend, raffte der große Erzbürger Kölns alle seine Kräfte zusammen, um das Größte zu thun, um zu zeigen, daß sein ganzes Leben nur der Vaterstadt galt, daß er seinen großen Schatz nur für sie bewacht hatte mit Aufopferung aller Ort, in kummervoller Entbehrung, die ihm sogar, zu seinem größten Schmerze, bei vielen Profanen den Namen eines kargen, eigensinnigen Kunstsonderlings zuzog.“
<12>
Genau diese Figur des ‚Erzbürgers Wallraf‘ als Vorbild ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt für seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert – zum Beispiel als der Ausgangspunkt einer langen Genealogie bürgerlicher Sammler*innen und Stifter*innen in Köln, unter denen mindestens Josef Haubrich, Alexander Schnütgen und Peter und Irene Ludwig regelmäßig genannt werden – von der posthumen imaginären „Verbrüderung“ Wallrafs mit dem Kaufmann Johann Heinrich Richartz als Geldgeber für den ersten Museumsbau von 1861 ganz abgesehen. Ein Beispiel dafür sei hier zitiert: „In den Annalen der Stadt Köln wird der Name ‚Richartz‘ neben dem des Erzbürgers Wallraf glänzen. Die nach kommenden Geschlechter werden Beide mit gleicher Hochschätzung und Dankbarkeit nennen. Nach Jahrhunderten noch wird das ‚Museum Wallraf-Richartz‘ Kunde geben, zu welchen Opfern ein hochherziger Gemeinsinn, der die Bürgerkrone verdient, im Interesse der einheimischen Kunst und zum Ruhme der Vaterstadt bereit war.“
<13>
Bis heute wird der ‚Erzbürger‘ in vielen Zusammenhängen ausdrücklich und selbstverständlich genannt, etwa so, wie es die Formulierung auf der Plakette am Wallrafplatz in Kapitel I bereits illustriert hat. Gerade weil Wallraf kein offizieller ‚Ehrenbürger‘ der Stadt ist und es keine explizite Ernennung gegeben hat, sondern er letztlich durch die unterschiedlichen Stimmen der Rezeption – von denen Smets offenbar die lauteste war – zum ‚Erzbürger‘ erklärt wurde, ergab und ergibt sich ein großer Möglichkeitsraum der ‚Anwendung‘ dieser ‚Erzbürgerwürde‘ in unterschiedlichen Kontexten. Wallraf ist vielleicht nicht Kölns einziger Säulenheiliger und es lassen sich zweifellos auch in anderen Städten und Kollektiven zentrale historische Figuren ausmachen – und doch scheint die Adressierung des ‚Erzbürgers‘ Wallraf eine kölnische Spezialität darzustellen. Blicken wir im letzten Teil darauf, was das eigentlich für Köln bedeutet – und für „uns“ in Köln. Gilt die dritte These auch heute noch – können und sollen wir selbst Wallraf werden?
Empfohlene Zitierweise (Einzelzeite)
Schlinkheider, Sebastian, Wallraf und wir. Eine Stadt (er-)findet ihren ‚Erzbürger‘ (DOI: https://dx.doi.org/10.18716/map/00009), in: mapublishing, 2024, hier: Kapitel 2c, ‚Erzbürger Wallraf‘ – aber wozu?, URL: https://wallrafundwir.mapublishing-lab.uni-koeln.de/kapitel-2/kapitel-2c (letztes Abrufdatum: [Datum einfügen]), [ggf. „Abs.“ und Absatz-Nr. einfügen].